Aus aktuellem Anlass eine Frage zur Wahrheit. In meinem Freundeskreis existiert eine Person, die großen Wert auf Ehrlichkeit legt. Ein ehrliche Meinung, keine Lügen erzählen. Eine direkte Frage resultiert da oft in einer Antwort, mit der man so gar nicht gerechnet hätte. Für mich eine außerordentlich bewundernswerte Einstellung und ein äußerst spannender Faktor in zahlreichen Gesprächen.
Das wirft aber Fragen auf:
Ist eine Person, die 10 Wahrheiten und 2 Lügen erzählt unehrlicher als eine, die nur 3 Wahrheiten, aber keine Lügen erzählt? Welcher würdest du trauen? Ist das eine Delta-Funktion? Der Ehrlichste ist derjenige, bei dem Anzahl Wahrheiten - Anzahl Lügen den größten Wert ergibt? In der zwischenmenschlichen Interaktion spielt Vertrauen eine große Rolle. Was heißt es denn, jemand "gut" zu kennen, denjenigen auch als Freund zu bezeichnen? Im Grunde doch, ein tiefes Verständnis für diese Person zu entwickeln, das in einer gewissen Zuneigung, im Extremfall sogar in Liebe münden kann. Jetzt habe ich da jemand, der mir immer alles so sagt wie es ist - oder eben gar nicht. Damit dreht er mir ein sehr schmales Profil zu, ich kann nicht wissen, wie es an den Längsseiten aussieht. Dann passieren auf einmal Dinge, die ich aus den Aussagen überhaupt nicht abzuleiten waren - ich bin auf einmal sehr unangenehm überrascht.
Es ist keine Lüge, die Wahrheit wegzulassen. Nur ergibt sich daraus eine Art Vakuum. Weil ich die fehlende Wahrheit mit meiner Phantasie ersetze, die dann auch "wahr" sein muss? Moralisch sitzt der Ehrliche jedenfalls auf dem hohen Roß. "Wieso, ich habe doch nichts falsches gesagt?!" Nein! Aber das "Richtige" weggelassen! Das führt in meinem Beispiel dazu, dass man der vermeintlich so ehrlichen Person so gar nicht mehr über den Weg traut - man weiß nie welche Wahrheiten da noch so aus den Löchern kommen.
Ist es deswegen ok, jemand anzulügen? Es scheint mir eher unerwünscht zu sein. Aber auch eine Lüge kann sozialen Frieden stiften, vor allem sind das die "kleinen" Lügen mit eher taktischem Inhalt. Ich für meinen Fall halte das für verzeihlicher, als einen vermeintlichen "Freund" die wirklich wichtigen Sachen zum großen Teil vorzuenthalten. Es ist manchmal richtig, Ballast abzuwerfen. Auch bei Freundschaften kann das vorkommen, vor allem wenn sie gedanklichen Raum einnehmen, der mit irrelevanten Interpretationen gefüllt wird. Das ist übrigens auch eine Wahrheit, die mir das Leben etwas einfacher macht.