Carpe Diem

Ich frage mich manchmal, ob die Menschen heutzutage an zuviel Zeit leiden. Jeder hat Unmengen Zeit zur Verfügung, bringt uns das nun weiter oder nicht?
Gestern abend stand ich in der Küche und räumte etwas herum. Dabei fiel mir die Menge an Geräten auf, die überall herumstehen: Wasserkocher, Spülmaschine, Mikrowelle, Kühlschrank, Rührgerät, Kaffeemaschine. Das gab es alles vor 50 Jahren noch nicht in den Küchen (na, bei Kühlschränken bin ich nicht so sicher aber sonst denke ich schon). Welche Veränderung bewirkt es? Zum einen erreichen wir ein besseres Ergebnis (also unverdorbene Lebensmittel, sauberes Geschirr, homogenes Rührergebnis), zum anderen geht alles etwas schneller. Es würde mich interessieren, wieviel Zeit die Menschen heute weniger in der Küche verbringen als vor 50 Jahren. Das mag etwas an den Haaren herbeigezogen sein, es gibt natürlich Bereiche, in denen die Zeitersparnis durch technische Entwicklung wesentlich drastischer ist. Verkehr, Waschmaschinen, Supermärkte. Computer? Neeein. Die überschüssige Zeit führt dazu, daß man sich dann abends länger vor der Glotze aufhalten kann. Warum ist das so? Vielleicht liegt es daran, daß früher abends der Körper müde war und der Geist noch wacher. Da konnte man schön etwas lesen, sich unterhalten, vielleicht sogar selbst etwas schreiben, (so wie in 'kreativ'). Heute scheint es genau anders herum zu sein. Wir sitzen alle im Büro (ok, manche) und abends ist der Geist müde aber der Körper nicht. Man kann nicht schlafen gehen, sich aber auch auf nichts 'sinnvolles' konzentrieren. Was bleibt? Bei mir selbst ist es ganz extrem: Nur Bildschirm tagsüber und abends keine Energie mehr, selbst eine Zeile zu lesen. Jetzt bin ich kein Fernseher, wir haben nicht einmal einen Antennenanschluß. Was ist denn eine sinnvolle Beschäftigung. Mir wurde immer gesagt, schon als Kind, ich solle mich sinnvoll beschäftigen, ein guuuts Buch lesen (was ist denn eigentlich ein "gutes Buch"?) und meine Zeit nicht verplempern. Meine Tante schrieb mir ins Poesiealbum (jaja, damals hatten wir alles eins, sogar die Jungs!):

Carpe Diem!

Ohne Schnörkel, mit Kuli mitten auf die Seite gekrakelt. Dafür hat sie vermutlich nicht länger als 10 Sekunden gebraucht. Sie nahm es also offensichtlich selber ernst. Knapp 20 Jahre später, gegen Ende meines Studiums habe ich langsam verstanden was sie meinte. Leider schließt sich unweigerlich wieder die Frage an, wie man denn nun den Tag am besten nutzt. Das soll jeder für sich selbst entscheiden. Gute Nutzung heißt doch, daß wir ein gutes Gefühl haben nach dem was wir getan haben. Im positiven Sinne, nicht wenn wir uns an jemand abreagieren, ist klar. Das passiert zum Beispiel dann, wenn man etwas geschafft hat, was unangenehm anzufangen ist. Und eher nicht, wenn man wieder 3 Stunden vor der Glotze versackt ist. Um auf den Anfang zurückzukommen (sollte man aus rhetorischen Gründen angeblich tun): Es wird immer schwieriger, dieses Gefühl zu erzeugen. Vor allem, gerade weil wir so viel (zu viel?) Zeit haben. Die Leute haben es immer schwerer, glücklich zu werden.

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